Die IT-Industrie war schon immer sehr einfallsreich, wenn es um neue Begrifflichkeiten ging. Im Zeitalter der Digitalisierung bzw. der digitalen Transformation schießen nahezu täglich neue Begriffe wie Pilze aus dem Boden. Es vergeht kaum ein Tag ohne eine neue Definition. Dabei werden durch die Verwendung dieser Begriffe oftmals Erwartungen geweckt, die dann aber durch die Lösungen, die diese Begriffe verkörpern, nicht erfüllt werden. In diesem Zusammenhang sind mir mal wieder meine beiden „Lieblingsbegriffe“ Robotic Process Automation (RPA – siehe hierzu auch mein Artikel über das Moral Hazard-Problem) und Process Mining (PM – siehe hierzu meinen kritischen Artikel über Process Mining) unangenehm aufgefallen.
Robotic Process Automation
Bei Robotic Process Automation liegt das Problem der Irreführung auf der Hand: Durch den Begriff wird die Erwartung geweckt, ganze Prozesse durch Roboter automatisieren zu können. Nichts davon ist richtig. Erstens werden nur einzelne Prozessschritte automatisiert, keine vollständigen Ende-zu-Ende-Prozesse. Von „Process Automation“ kann also nicht die Rede sein. Und zweitens kommt auch kein Roboter vorbei, um Wunderwerke zu verrichten, sondern ein Stück Software übernimmt Eingaben in Bildschirmmasken, die zuvor von Menschen bedient wurden. Das ist alles. Dies hochtrabend als „Robotic Process Automation“ zu bezeichnen ist schon sehr anmaßend. Ganz zu schweigen von den gefährlichen Nebenwirkungen, die mit dieser Technologie einhergehen. Eine Umbenennung dieser Technologie in User Task Automation scheint mir daher angebracht.
Process Mining
Bei Process Mining ist das Problem mit der Namensgebung nicht ganz so offensichtlich und bedarf einer Erklärung. Geht man unbedarft an den Begriff ran, so erwartet man durch diese Technologie das „Schürfen“ von Prozessen. So verstehen sich tatsächlich auch die Hersteller von Process Mining-Lösungen, wie z.B. Celonis. Auf deren Webseite unter https://www.celonis.com/process-mining/what-is-process-mining/ finden wir beispielsweise die folgende Definition für Process Mining:
Process mining is defined as an analytical discipline for discovering, monitoring, and improving processes as they actually are and not as you think they might be.
Übersetzt: Process Mining ist definiert als eine analytische Disziplin zur Entdeckung, Überwachung und Verbesserung von Prozessen, wie sie tatsächlich sind und nicht, wie man denkt, dass sie sein könnten.
Ganz offensichtlich und unmissverständlich wird der Begriff processes/Prozesse verwendet. Doch genaugenommen stimmt das nicht! Es werden durch Process Mining keine Prozesse identifiziert. Es werden lediglich Ausführungspfade der Prozesse visualisiert (zur Funktionsweise von Process Mining-Lösungen siehe ebenfalls meinen Artikel dazu). Doch was ist der Unterschied zwischen einem Prozess und dessen Ausführungspfaden. Dazu ein kleines Beispiel. Betrachten Sie folgendes einfache Prozessmodell (Abbildung 1), das einen Prozess repräsentiert:
Sie sehen ein generisches Prozessmodell ausgedrückt in BPMN (Business Process Model and Notation). Nehmen wir an, dieser Prozess wird nun in Software abgebildet und ausgeführt. Was würde eine Process Mining-Software mitprotokollieren? Welche Ereignisse würde sie mitschreiben?
Aufgrund des dargestellten Modells sind folgende Ausführungspfade vom Prozessstart bis zum Prozessende denkbar (zur Vereinfachung werden nur die Aufgaben (Rechtecke) mitprotokolliert und wir berücksichtigen die Schleife nicht):
- A
- B
- C
- AB
- BA
- AC
- CA
- BC
- CB
- ABC
- ACB
- BAC
- BCA
- CAB
- CBA
Unglaublich, oder? So ein einfaches Modell, aber schon in dem einfachsten aller denkbaren Fälle kommen wir auf 15 Ausführungspfade! Sie dürfen jetzt gerne Ihre Kombinatorik-Kenntnisse aus der Schule hervorkramen und überlegen, auf wie viele endliche Ausführungspfade man kommt, wenn auch noch die Schleife zum Einsatz kommt. Deren Anzahl steigt exponentiell! Nehmen wir dann noch einen Ereignis-Teilprozess mit in das Bild auf, explodiert die Anzahl der Ausführungspfade förmlich:
Sie sollten Folgendes durch dieses kleine Gedankenexperiment mitgenommen haben: Die Anzahl der Ausführungspfade explodiert selbst bei einfachsten Prozessen und sie lassen zudem keinen Rückschluss auf den zugrunde gelegten Prozess zu! Und genau aus diesem Grund kann Process Mining-Software keine Prozesse hervorzaubern. Oder wären Sie aufgrund obiger Liste von Ausführungspfaden, und nichts anderes zeichnet Process Mining-Software auf, auf das dazugehörige Prozessmodell gekommen?
Ich bin immer wieder erstaunt, wenn Kunden von Process Mining-Lösungen schier in Begeisterungsstürme ausbrechen, wenn ihnen die Software offenbart, welch seltsame Wege ihre Prozesse manchmal nehmen. Doch das liegt schlicht und einfach in der Natur der Sache. Es ist normal! Aber haben sie dadurch ihren Prozess erkannt? Nein! Sie wissen nur, welchen Ausführungspfaden ihre Prozesse folgen – mehr nicht!
Von daher müsste Process Mining umbenannt werden. Mir erscheint “Process Execution Path Visualizer” geeigneter zu sein. Und Sie verstehen vielleicht besser, warum ich die ganze Process Mining-Euphorie eher kritisch sehe. Weitere Details dazu finden Sie in meinem dedizierten Process Mining-Artikel.
Noch ein Nachtrag zu der Verwirrung um die Begriffe „Prozess“ und „Ausführungspfad“. Richtig unangenehm wird es, wenn die Unwissenheit bezüglich der Bedeutung dieser Begriffe bewusst manipulativ eingesetzt wird, um Ziele zu erreichen. Als besonders übles Beispiel möchte ich auf ein Video verweisen, in dem bewusst auf die Unterscheidung zwischen den Begriffen verzichtet wurde, um sämtliche Flowchart-basierten Modellierungsansätze (zu denen ja auch die von mir favorisierte BPMN gehört) in Misskredit zu bringen. Das Video ist mit „Flowcharts considered harmful“ betitelt und ist hier auf YouTube zu finden (Länge: 1:48 min). Durch das Video wird der Eindruck erweckt, man müsste mit BPMN sämtliche Ausführungspfade eines Prozesses modellieren, um die Realität widerzuspiegeln, was natürlich völliger Unsinn ist. Das obige Beispiel zu Abbildung 1 hat dies ja eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Dementsprechend „hanebüchen“ sind auch die Aussagen des Videos und die Begründung, weshalb man auf die im Video beworbene Lösung wechseln sollte. Sie sehen aber einmal mehr, wie sehr es auf eine präzise Begriffsbildung und Definition ankommt, um derartigen Werbefilmchen nicht auf den Leim zu gehen. Ihnen sollte dies aufgrund dieses Artikels nun nicht mehr passieren.
Beim Prozessgesteuerten Ansatz brauchen Sie sich übrigens diesbezüglich keine Sorgen zu machen. Da bekommen Sie, was auf dem Etikett draufsteht. Garantiert.