Neues aus Absurdistan: BAföG-Peinlichkeiten

In meinem heutigen Blog geht es einmal mehr um nicht-funktionierende Prozesse. Ein ja fast schon unglaubliches Beispiel wurde am 05.12.2022 von Jan-Henrik Wiebe in einem Artikel auf tagesschau.de unter dem Titel „BAföG-Anträge: Digitalisierung mit fatalen Folgen“ veröffentlicht. Was man da zu lesen bekommt, lässt einen nur den Kopf schütteln. Im Wesentlichen geht es um die verspätete Auszahlung von BAföG-Geldern an Studierende. Doch es geht nicht um einige wenige Tage oder vielleicht eine Woche. Es geht um Monate, teilweise fünf Monate und länger. Die Gründe? Im Artikel heißt es dazu:

Grund dafür sind eine fehlgeschlagene Digitalisierung der Anträge, immer neue Regeln und damit überarbeitete Ämter. Hinzu kommen ein hoher Krankenstand und Fachkräftemangel.

Jan-Henrik Wiebe

Wir lenken unseren kritischen Blick natürlich auf die fehlgeschlagene Digitalisierung. Wie sieht die Digitalisierung also konkret aus? Dazu wieder ein Zitat aus dem Artikel:

Zwar kann seit September 2021 mit BAföG-Digital in allen Bundesländern der Antrag online gestellt werden. Doch dann beginnen die Probleme. Laut dem Dachverband der bundesweit 57 Studenten- und Studierendenwerke hat die digitalisierte BAföG-Antragstellung „in der Praxis fatale Folgen“. „Die BAföG-Ämter der Studierendenwerke müssen die online eingereichten BAföG-Anträge der Studierenden händisch ausdrucken. Die Drucklast in den BAföG-Ämtern ist so hoch, dass dafür eigens zusätzliches Personal eingestellt werden muss: um digitale Anträge auszudrucken“.

Jan-Henrik Wiebe

Ah ja: In dem Prozess wurde offensichtlich genau ein Schritt digitalisiert: Der Antrag kann jetzt online gestellt werden. Danach erfolgt die Weiterverarbeitung wie gehabt auf Papier. Die Anträge werden tatsächlich händisch ausgedruckt, wozu extra Personal eingestellt werden musste. Es kommt aber noch besser:

Auch beim Papier selbst gibt es Engpässe. Im Jahresbericht des Studentenwerks Ost-Niedersachsen heißt es etwa: Papiermangel in der BAföG-Abteilung im Dezember 2021.

Jan-Henrik Wiebe

Haben Sie da noch Fragen? Ich nicht mehr. Einmal mehr ein Beispiel aus Absurdistan, an dem man nur verzweifeln kann. Und wer bleibt letztendlich auf der Strecke? Die Studierenden, die auf dieses Geld angewiesen sind. Im Artikel ist von knapp einer halben Million Studierenden die Rede. Sie müssen ausbaden, was an anderen Stellen versäumt wurde.

Ich empfinde dieses Beispiel einfach nur noch als höchst peinlich.

Graphic Recording meines Vortrags auf der Konferenz „Agile Verwaltung“

Gestern hatte ich das große Vergnügen, auf der Konferenz „Agile Verwaltung“ in Form eines Impuls-Vortrags über neue Wege der digitalen Transformation in öffentlichen Einrichtungen zu sprechen. Das Feedback zur Session hat mir gezeigt, dass die Botschaft verstanden wurde: Der richtige Weg zur digitalen Transformation führt ausschließlich über den Prozessgesteuerten Ansatz!

Doch auch der Veranstalter hatte eine besondere Überraschung parat: Meine Session wurde in Form eines „Graphic Recordings“ aufgenommen! Es gibt also keine Videoaufzeichnung meines Vortrags, aber eine grafische Aufnahme, die von Imke Schmidt-Sári (123comics) parallel zu meinem Vortrag angefertigt wurde. Und was soll ich sagen? Das „Recording“ ist phänomenal geworden! Ich will Euch dieses Meisterwerk natürlich nicht vorenthalten und darf es mit freundlicher Genehmigung des Veranstalters und der Künstlerin hier veröffentlichen. Hier ist es also (Tipp: Bild mit rechter Maustaste anklicken und „Bild in neuem Tab öffnen“ auswählen, um das Werk in voller Größe genießen zu können):

Graphical Recording erstellt von Imke Schmidt-Sári (123comics)

Der „Prozessgesteuerte Ansatz“ mal ganz anders repräsentiert. Wenn das keine Lust auf den Prozessgesteuerten Ansatz macht, verstehe ich es auch nicht mehr 😉.

Digitalisierungs-Eldorado „Öffentliche Verwaltung“

In meinem heutigen Blog-Beitrag möchte ich auf einen hörenswerten Podcast des Handelsblatts aufmerksam machen, der am 09.07.2021 veröffentlicht wurde und unter diesem Link anzuhören ist. In diesem Podcast wird Lars Zimmermann interviewt. Gemäß der oben verlinkten Ankündigungsseite zu dem Podcast „baut Lars Zimmermann mit Public eine sogenannte Venture Firm auf, die Tech-Startups und Verwaltungen zusammenbringt. Außerdem stellt Public Kontakt zwischen Startups und internationalen Investoren her, die gerade enorme Summen in das Feld investieren.“

Inhaltlich werden folgende Fragen diskutiert (ebenfalls obiger Seite entnommen):

„Welche Ideen haben wirklich eine Chance? Wie sieht ein moderner Staat aus? Ist es überhaupt realistisch, dass die schleppende Digitalisierung mehr Fahrt aufnimmt oder bleibt es am Ende wieder bei leeren Versprechen? Und welche Rolle können junge Technologiefirmen bei alledem spielen?“

Soweit also die Ankündigung auf der Handelsblatt-Webseite. Hört man sich den Podcast an, so ist es im Grunde ein einziger Schrei nach dem „Prozessgesteuerten Ansatz“. Wieder einmal geht es im Kern um neue Prozesse, die, wenig überraschend, so schnell wie irgend möglich umzusetzen sind. Auch Lars Zimmermann weist auf den hinlänglich bekannten Punkt hin, dass es nichts bringen wird, aktuelle Prozesse einfach nur digital nachzubauen. An dieser Stelle erinnere ich nur an das altbekannten Dirks-Zitat: „Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben Sie einen scheiß digitalen Prozess.“

Zimmermann formuliert es etwas eleganter (Minute 11:29): „Wir digitalisieren gerade die Vergangenheit nach.“ Aber er spricht auch die organisatorischen Herausforderungen der Digitalisierung an, denen wir insbesondere hier in Deutschland aufgrund der föderalen Struktur gegenüberstehen. Auf den Punkt gebracht sagt er (Minute 12:35): „Wie machen wir den Föderalismus fit für das 21. Jahrhundert?“

Allein: Wegweisende Antworten, wie das genau zu erreichen ist, findet man nur wenige, denn wir werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das föderale System nicht grundlegend infrage stellen. Von daher bin ich, was diese Forderung angeht, mehr als skeptisch.

Angesprochen auf Public und welche Rolle Public konkret spielt, stimmen mich seine Antworten ebenfalls nachdenklich. Konkret antwortet er (ab Minute 19:40):

„Unser Hebel ist, dass wir sagen, es gibt ’ne ganze Reihe von technologischen Lösungen und Innovationen, die in der Tech-Szene schon bestehen oder dort entwickelt werden und die aber noch keine Anwendung in Verwaltungen finden und wir sagen: Es würde so viel einen Mehrwert für alle möglichen Bereiche geben, wenn wir diese Lösungen aus Deutschland oder aus Europa in Deutschland selber anwenden. D.h. wir versuchen im Grunde genommen diese Brücke zu bauen zwischen Startups/Technologieunternehmen und dem Staat als Anwender und als Nachfrager und als Auftraggeber und damit können wir natürlich z.B. relativ schnell sehr gute Produkte in die Verwaltung bringen.“

Er spricht auch später stets von den „richtigen Produkten“ (21:36) für die Verwaltungen. Das ist typisch für die meiner Meinung nach nicht mehr passende Denkweise im Zeitalter der digitalen Transformation. Es geht eben nicht mehr um fertige Lösungen und Produkte, die dann mal so eben in den Verwaltungen einzusetzen sind. Das verschlimmert den Zustand der Schnittstellenrepublik, wie es die ebenfalls in dem Podcast zitierte Bundeskanzlerin (Minute 24:10) so treffend ausdrückt, nur zusätzlich. Außerdem befindet sich der Markt in einem solchen Wandel, auf welche Lösung sollten die Verwaltungen denn setzen? Die Lösung von heute ist morgen schon wieder veraltet. Wie will man bei diesem Hase-und-Igel-Rennen gewinnen? Glaubt Hr. Zimmermann wirklich, dies ließe sich in diesem Ameisenhaufen in irgendeiner Form geordnet umsetzen? Ich glaube nicht daran.

Das bereits oben angesprochene Zitat der Bundeskanzlerin ist in vielerlei Hinsicht interessant. Hören wir nochmal in den Podcast rein (24:10):

„Wir dürfen keine Schnittstellenrepublik werden, wo wir permanent irgendwelche Schnittstellen miteinander vernetzen, wo sich aber die einzelnen Untersysteme nicht gleichmäßig weiterentwickeln. Und Digitalisierung hat ja ständige Erneuerung und das ist ’ne richtige tiefe Debatte, die wir über die Funktionsfähigkeit eines föderalen Systems im digitalen Zeitalter führen müssen.“

Diese Systemvielfalt ist mit Sicherheit ein Hindernis bei der geforderten schnellen digitalen Transformation Deutschlands. Aber sich dieser Herausforderung zu stellen und Lösungen unter Berücksichtigung der Heterogenität zu finden, genau an diesem Punkt scheiden sich die Geister. Stattdessen wird Unmögliches gefordert: Die Untersysteme, wie es die Bundeskanzlerin fordert, sollen sich gleichmäßig weiterentwickeln. Wie soll das funktionieren? Wie soll das in diesem „Hühnerhaufen“ umgesetzt werden? Und das schnell?

Lars Zimmermann schlägt in eine ähnliche Kerbe (ab Minute 24:40). Er fordert die Erfüllung von drei Bedingungen. Sind sie erfüllt, so Zimmermann, dann ist die Skalierung von Technologie zu schaffen:

  1. Zentrales Auffinden der Lösungen und deren Einsatz (aktuell keine Transparenz im Markt, was wo eingesetzt wird)
  2. Interoperabilität
  3. Standardisierung (Marktplatz, Plattform)

Getoppt werden diese Bedingungen mit Zimmermanns Aussage, die den „heiligen Gral der kommunalen Selbstbestimmung in Technologiefragen“ (25:55) infrage stellt. Meine Meinung dazu: Unrealistisch!

Die einzige Möglichkeit, in diesen stürmischen Zeiten die Weichen richtig zu stellen, ist die Standardisierung auf Prozessebene. Diese Prozesse in einem Process App Store zu sammeln und den Verwaltungen dann zur Verfügung zu stellen. Dieser Ansatz scheint mir zielführend und erfolgversprechend zu sein, wenn es darum geht, Prozesse in der Fläche zu skalieren.

Diese Skalierung in der Fläche wird auch von Markus Richter als kritisch angesehen. Markus Richter ist CIO der Bundesregierung und gibt im Podcast ebenfalls ein kurzes Statement ab (Minute 35:10): „Wir haben viele digitalen Lösungen und in vielen Bereichen ist das auch im Praxisbetrieb. Aber es skaliert nicht in der Fläche. Es ist eben nicht so, dass man in Deutschland auf einen Knopf drückt und dann ist der digitale Bauantrag in allen Kommunen vorhanden. […] Das ist die große Herausforderung, die Skalierung in der Fläche.“

Genau diesem Traum des Knopfdrucks und des Ausrollens von Prozessen in der Fläche kommen wir mit dem Process App Store schon sehr nahe, insbesondere natürlich dann, wenn diese Prozesse dem „Prozessgesteuerten Ansatz“ folgen. So können diese innovativen systemunabhängigen Fachprozesse über systemabhängige Integrationsprozesse (siehe hierzu den Abschnitt der „Prozessgesteuerten Architektur“ in meinem Grundlagenartikel über den Prozessgesteuerten Ansatz) an die jeweiligen lokalen Gegebenheiten der Behörde angepasst werden, in der die neuen Fachprozesse letztendlich zum Einsatz kommen.

In die föderalen Strukturen müsste bei diesem Vorgehen nicht eingegriffen werden. Die Kommunen dürften sogar unabhängig voneinander neue Prozesslösungen erarbeiten und sie im Process App Store zur Wiederverwendung veröffentlichen, alles kein Problem. Es kommt letztendlich zu einem Wettbewerb der Prozessideen und nicht der Produkte und Lösungen! Der bessere (Prozess) möge gewinnen. Und diese könnten anschließend mit überschaubarem Aufwand in den Kommunen zum Einsatz kommen! So könnten Deutschlands Verwaltungen wirklich innoviert werden! Wenn uns das gelänge, könnten wir wieder zu den Vorreitern der Verwaltungen werden, wie uns dies im analogen Zeitalter gelungen war und damit dem finalen Wunsch von Lars Zimmermann erfüllen, wenn er fordert (Minute 47:45):

„Die Bundesrepublik Deutschland sollte die Ambitionen haben zu sagen, wir sind unter den Top Drei Tech-Nationen der Welt. Das sollte und muss aus meiner Sicht die Ambition sein, auch der nächsten Bundesregierung: Zu sagen, es gibt drei Länder, wo Technologien die Basis für zukünftiges Wachstum sind und das sind die USA, das ist China und das ist die Bundesrepublik Deutschland“.

Der „Prozessgesteuerte Ansatz“ steht jedenfalls bereit, um diese Ambitionen Wirklichkeit werden zu lassen!